Wie ein Ritt auf der Rasierklinge
Es war ein Ritt auf der Rasierklinge. Sergej ist sich darüber im klaren. Aber es hat geklappt. Tausend Kilometer einfach bis zur polnischen Grenze ist er vor zwei Tagen gefahren. Durch die Nacht. An seiner Seite die junge Ukrainerin Oxana, die spontan ihr Auto zur Verfügung gestellt hat, um eine frisch operierte junge Frau abzuholen, die kurz nach ihrer Operation in Charkov fliehen musste. Das Krankenhaus war bombardiert worden. Trotz Kanülen und Kathedern in Nase und Leiste war es ihr gelungen. Ihr Mann hatte sie zusammen mit dem sechs Monate alten Baby zur polnischen Grenze gefahren. Und von dort hatten Sergej und Oxana die drei nach Bayreuth gebracht.
Ein Ritt auf der Rasierklinge. Aber Sergej konnte nicht anders, erzählt er. Als gebürtiger Ukrainer gehört er zum Helferkreis in der Turnhalle am Roten Main. Seit seinem siebten Lebensjahr ist er in Bayreuth zuhause, erzählt er. Wenn er spricht, klingt es fast fränkisch. Seit der Krieg in der Ukraine ausgebrochen ist, gibt es für den jungen Mann nur noch zwei Aufgaben. Wenn er nicht gerade seinem Job als Industriemeister nachgeht, hilft er seinen ankommenden Landsleuten in Bayreuth. Und er war in der Halle, als der völlig verzweifelte Anruf einer jungen Ukrainerin einging, die als Flüchtling in einem ehemaligen Hotel in Bayreuth untergebracht ist. Sie berichtete den Helfern von ihrer Cousine in Charkov, die nach einer schweren Unterleibsoperation mit anschließender Chemotherapie im Krankenhaus lag, das plötzlich evakuiert werden musste. Hals über Kopf trat die Frau die Flucht an. Die Flucht Richtung polnische Grenze. Eine andere Chance sah ihr Mann und Vater des Säuglings nicht.
Er packte die frisch Operierte und das Kind ins Auto und floh mit ihr bis nach Krakowez in Polen. Dort wurde das Paar mit dem Kind in einer Notunterkunft untergebracht. Provisorisch. Ärzte erklärten, dass die Frau trotz der nur wenige Tage zurückliegenden OP transportfähig sei, und so nahm sie den Kontakt mit ihrer Cousine auf, von der sie wusste, dass sie in einer Unterkunft in Bayreuth war. Die wiederum wandte sich an die Helfer in der Turnhalle am Roten Main. Eigentlich hätte die frisch Operierte dann vom Katastrophenschutz des Roten Kreuzes geholt werden müssen. Doch Sergej, selbst Vater zweier Töchter, wollte einfach nicht warten bis der Transport möglich war. Zu sehr ging ihm das Schicksal der jungen Familie an die Nieren. Und wie es der Zufall wollte, war auch Oxana an diesem Tag in der Turnhalle. Sie erfuhr von dem Vorfall und bot Sergej an, dass sie ihr Auto für den Transport zur Verfügung stellen könnte. „Wir haben einen Kindersitz reingepackt und sind quasi auf der Stelle losgefahren.“
Um 4 Uhr morgens erreichen die beiden, die abwechselnd am Steuer sitzen, die Notunterkunft an der polnischen Grenze. Erschreckend für Sergej und Oxana, was sie dort vorfinden. „Eine eiskalte Lagerhalle, die provisorisch umfunktioniert wurde, dünne Matratzen auf dem bloßen Boden und Dixi-Klos. Ich weiß nicht, ob die Frau das geschafft hätte, wenn sie hier hätte ausharren müssen.“
Dann die Rückfahrt nach Bayreuth. Nonstop für die Helfer. Wieder zehn Stunden am Steuer. Im Klinikum Bayreuth ist man inzwischen vorbereitet für die Aufnahme der operierten Frau. Der Ehemann und das Baby werden im Hotel untergebracht, in dem auch die Cousine ist. Aus dem Klinikum bekommt Sergej Whatsapp-Nachrichten der jungen Mutter, die auf der Rückfahrt fast nur geweint hat. Es gehe ihr soweit gut. Sie ist so glücklich, dass sie in Deutschland ist. Und sie hofft, dass die Chemotherapie anschlagen möge. Sie hofft auf Genesung und eine gemeinsame Zukunft mit ihrem Mann und dem Kind.
Und Sergej? Er zuckt mit den Schultern, möchte nicht viel Aufhebens um seinen Einsatz machen. Und zeigt im Café in der Turnhalle am Roten Main in die Runde. Es sind so viele, die hier helfen, ihre Freizeit zur Verfügung stellen. Was ihn noch verbindet mit der jungen Mutter, die er gerettet hat: Auch Sergej ist in Charkov geboren. Und Oxana, die sympathische junge Frau mit den dunklen Haaren, die mit ihren zwei Kindern eine Wohnung in Bayreuth gefunden hat, und jetzt als erstes Deutsch lernen möchte, lacht nur und sagt: „Sergej hat ein großes Herz.“
Die Kurier-Stiftung „Menschen in Not“ hat die Benzinkosten für die Fahrt nach Polen und zurück übernommen.