„Deutschland leistet so viel für die Menschen“

Das dreifarbige Kopftuch trägt Nur B. voller Stolz. „Es ist Allahs Pflicht, nicht die eines Mannes“,  erklärt sie. Denn von Männern möchte sich die 45-jährige Mutter von sechs Kindern nichts mehr befehlen lassen. Die gläubige Muslimin, die seit 1994 in Deutschland lebt und für die Bayreuth so zur Heimat geworden ist, dass sie die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt, hat einen erstaunlichen Wandel von einer dem Ehemann ergebenen Frau zur selbstbewussten Persönlichkeit durchlebt. „Heute bin ich der Chef“, sagt sie, während Stolz in der Stimme mitschwingt, aber auch immer wieder Unsicherheit und unendlich große Dankbarkeit für ein Land, das ihr diese Möglichkeiten gegeben hat, wie sie nicht müde wird zu betonen.

Es war ein schwerer Weg bis heute. Nur B. erinnert sich noch genau an ihre Heimat Mazedonien, wo sie mit ihren Eltern und zwei Geschwistern auf einem kleinen Bauernhof aufwuchs. Getreide wurde hier angebaut, ebenso Tabak und Paprika. Als sie 16 Jahre alt war, flohen ihre Eltern mit den Kindern nach Deutschland. Der Jugoslawienkrieg nahm ihnen jede Perspektive, doch die Zeit in Deutschland war nicht viel besser. Der Vater durfte als Asylbewerber nicht arbeiten und so kehrte die Familie bereits ein Jahr später nach Mazedonien zurück.

Nur B. hatte in Deutschland ihren späteren Mann kennengelernt. Als sie 17 Jahre alt war, machte er ihr einen Heiratsantrag. 1997 wurde geheiratet. Der erste Sohn kam in Mazedonien zur Welt und die junge Mutter machte sich mit dem Säugling im Arm auf den Weg nach Deutschland. „Das war am 28. März 1998. Mit meinem Sohn in der Bauchtrage bin ich in Berlin aus dem Flugzeug gestiegen“,  erinnert sie sich noch genau. „Ich hatte nicht viel mehr als einen braunen Rucksack dabei. Aber es war die einzige Möglichkeit für mich. Man kann nicht als alleinerziehende Mutter in Mazedonien leben. Das wird gesellschaftlich nicht geduldet.“ Um Mitternacht ist die junge Mutter mit ihrem Kind dann endlich mit dem Zug in Bayreuth angekommen. Ihr Mann holt sie ab.

In der gemeinsamen Wohnung verbringt sie dann die meiste Zeit ihres damaligen Lebens. Abgeschottet und weitgehend isoliert. Insgesamt fünf weitere Kinder werden geboren. Fast jedes Jahr eines. Das letzte Kind kam 2007 zur Welt. Es war eine Frühgeburt. Nur B. ist erschöpft. Körperlich und seelisch. Die Arbeit mit den Kindern, der Haushalt und die ständigen Streitereien des Vaters mit den Kindern haben sie an den Rand des Nervenzusammenbruchs gebracht. „Ich habe nie Zeit für mich gehabt.“

Und doch hat sie in dieser Zeit auch immer wieder Hilfe erfahren, für die sie dankbar ist. „Deutschland leistet so viel für die Menschen, vor allem auch für die Migranten. In Form von Unterstützung, Beratung und finanziellen Leistungen“,  sagt sie. Und dann nennt sie Namen: Ines Hebenstreit vom Hildegard-Puchtler-Kindergarten beispielsweise. „Sie hat mir viel emotionale und praktische Unterstützung in der Kindergartenzeit gegeben.“

Durch die gesundheitlichen Probleme ihres Jüngsten kommt sie in Kontakt mit dem Paritätischen Wohlfahrtsverband. Erneut findet sie Menschen, mit denen sie reden kann, auch über Gewalt in ihrer Ehe. Menschen, die ihr Hilfe geben, als es zur Scheidung kommt. Als ihr Mann auszieht aus der gemeinsamen Wohnung, kommt es immer wieder zu Belästigungen. Sie entschließt sich, gemeinsam mit den Kindern nach Leipzig zu ziehen. Eine Fehlentscheidung, wie sich bald zeigt. In der kleinen Wohnung in der großen Stadt erleben sie viel Fremdenfeindlichkeit, die so weit geht, dass Brandsätze ins Zimmer geworfen werden. Bierflaschen landen vor der Tür. „Das war furchtbar. Wir haben uns oft nicht aus dem Zimmer getraut.“ Auch finanziell ging es eng zu. „Meist habe ich  Brötchen gekauft, Aprikosen und Scheiblettenkäse. Das musste reichen.“

Nur B. entschließt sich zur Rückkehr nach Bayreuth. Noch heute kann sie sich an die Zugfahrt an einem heißen Sommertag erinnern. Ihr Jüngster hat Durst und Hunger und weint. Eine Frau beobachtet die Familie bei ihrer Ankunft am Bayreuther Hauptbahnhof. „Sie hat uns angesprochen, ob sie dem Kind Wasser kaufen darf“,  erzählt Nur B. Sie habe sich dafür bedankt, aber geantwortet, dass sie es nicht be­zahlen könne, da sie kein Geld mehr habe. Die Frau besorgt daraufhin auch noch Bananen für die Kinder und lädt die Mutter auf eine Tasse Kaffee ein. Als sie sich verabschiedet, drückt sie Nur B. 100 Euro in die Hand. Einfach so, erzählt Nur B. mit tränenerstickter Stimme.

In der Stadt, die ihr zur Heimat geworden ist, kämpft sie sich durch. Arbeitet als Putzfrau und in einer Anwaltskanzlei, trägt Zeitungen aus und hilft heute Migranten, sich zurechtzufinden, denn sie spricht sehr gut Deutsch. „Mit großem Erfolg“, bestätigt auch Nicole Hahn von der Beratungsstelle des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. „Ich bin durch meine Arbeit sehr glücklich geworden“, sagt die Frau mit dem rundlichen Gesicht und den dunklen Augen. Sie lebt auch heute noch streng nach islamischen Regeln und feiert Ramadan, aber sie genießt auch ihre Freiheit, so leben zu können, wie sie es möchte. „Ich lebe hier in Deutschland. Ich brauche keinen Mann. Niemand wird mir mehr sagen, ich müsse heiraten“, sagt sie. Ihre Schwiegertöchter, die nach islamischem Ritus getraut wurden, „liebe ich wie meine eigene Tochter“. Gewalt, so sagt sie, soll für sie ein für alle Mal ein Ende haben. Und dafür ist sie Deutschland und all den Helfern, die sie hatte, unglaublich dankbar.

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