„Gefühle und das Herz vergessen nichts“

Von Gabi Schnetter

„Oh, ist die lecker“, sagt Irmgund E. „Die habe ich mit Liebe gebacken,“ erklärt Helferin Gaby Lang. „Na, hab‘ ich doch gewusst, dass da noch was anderes drin ist,“ meint Marianne S. Und alle lachen. Ein großer Tisch, liebevoll geschmückt mit einem herbstlichen Strauß, bunte Servietten, der Kaffee dampft. Die Eierschecke, eine sächsische Spezialität, schmeckt allen. Eine ganz normale Nachmittagsrunde älterer Herrschaften. Was die meisten eint: Sie leiden an Demenz. Die zunehmende Vergesslichkeit beeinträchtigt ihr Leben. Um den Alltag bewältigen zu können, brauchen sie immer mehr Hilfe.

Und in Hollfeld bekommen die manchmal bis zu sieben Gäste ebenso wie die Angehörigen diese Unterstützung durch die Fachstelle für pflegende Angehörige im Mehrgenerationenhaus der Caritas. Sozialpädagogin Ruth Domide leitet die Demenzgruppe, die sich zweimal im Monat trifft. Die kleine Runde ist so viel mehr als nur ein Beisammensein. Jedes Mal wird etwas vorbereitet, kleine Basteleien, um die Motorik zu schulen, Gymnastik, Gesang, und es gibt ein Thema, an dem man sich entlanghangelt. Gerne auch mit Erinnerungen, die tief in der Vergangenheit, in der Kindheit der Demenzkranken liegen. Und genau hier kann man sie auch abholen. „Die Kindheit ist einem Demenzkranken viel näher als das Jetzt. Aber Gefühle und das Herz werden schließlich nicht dement. Die vergessen nichts,“ sagt Ruth Domide.

Vor allem auch für die pflegenden Angehörigen sind die Treffen eine echte Entlastung, „denn das ist schon manchmal ein Knochenjob. Die Angehörigen geben dann für einen Nachmittag die Verantwortung ab. Und wenn sie zurückkommen, sind die Demenzkranken auch entspannt.“       

An diesem Nachmittag wird erst einmal Geburtstag gefeiert. Anna S., „das Küken in der Runde“, wie Ruth Domide lachend anmerkt, ist 92 Jahre alt geworden. „Viel Glück und viel Segen“, sogar als Kanon wird das Geburtstagslied gesungen. Und dann dreht sich an diesem Nachmittag alles um den Herbst. Kastanien liegen auf dem Tisch, dazu Hagebutten. „Das wird Marmelade,“ die Erinnerung ist schnell wieder da. „Die Jungs haben früher Juckpulver draus gemacht,“ weiß Helga M. Sie muss schmunzeln. Vielleicht in Erinnerung an eine erste Freundschaft. Was sich liebt, das neckt sich, sagt der Volksmund.

Und dann sind da Schlehen in dem großen Strauß, der auf dem Tisch steht. Auf Ruth Domides Frage, was man daraus macht, kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen: Schnaps. Und auch bei einem herbstlichen Gedicht wissen manche Senioren, was sich darauf reimt. „Ich mache kein Gedächtnistraining“, sagt Ruth Domide, „was weg ist, kann man nicht mehr zurückholen.“ Ihr ist es vielmehr wichtig, dass sich ihre Gäste, wie sie die Teilnehmer der Runde nennt, hier wohlfühlen, dass viel gelacht wird, und dass sich jeder so angenommen fühlt, wie er ist. Eine leichte, fröhliche Atmosphäre wünscht sie sich. Und die spürt man auch. Auch als Anna S. gefragt wird, wer denn die Eicheln frisst, die in einem alten Kinderlied besungen werden. Sie reagiert unwirsch: „Jetzt ham’s mich beim Denken erwischt,“ sagt sie und wirkt in sich gekehrt, während Marianne S. erzählt, dass sie heute an der Kapelle spazieren war und da ganz besondere Pflanzen gefunden hat. Welche, das fällt ihr gerade nicht ein. Nach ein paar Minuten bricht es aus ihr heraus: „Das war die Kardätschendistel“.

Ruth Domide lässt ihren Gästen diese Zeit zum Nachdenken. „Bei mir dürft ihr alles und müsst nichts,“ diese Maxime hat sie sich zum Leitfaden gemacht. „Wie das Gespräch läuft, das bestimmen letztendlich meine Gäste.“ Auch dann, als Bilder gemalt werden und mit Gymnastik begonnen wird. Solche Angebote gehören jedes Mal dazu. „Gymnastische Übungen vor allem als Sturzprophylaxe, um die Muskeln zu trainieren.“ Und dann sind es vor allem Farben und Formen, Gerüche und Geschmäcker, die Demenzkranke ansprechen. Sinnliche Wahrnehmungen. „Waldboden riechen oder frische Erdbeeren. Mit der Aromatherapie kann man viel erreichen.“

Aber auch mit Fahrten. Bisher durfte sich die Gruppe ein Fahrzeug der Stadt Hollfeld für ihre Zwecke ausleihen. Doch nachdem der Wagen defekt war, wurde kein Ersatz gekauft. Einen Bus braucht die kleine Gemeinschaft aber dringend, um die Gäste in dem weitläufigen Stadtgebiet von Hollfeld abholen zu können. „Auch das ist ja schon so was wie ein Ausflug. Die Landschaft vorüberziehen sehen, und sich dabei unterhalten. Die meisten sitzen ja sehr viel zu Hause,“ erklärt Ruth Domide. Und dann laufen auch schon Planungen für das neue Jahr. Wenn vielleicht wieder Kinoabende möglich sind oder sogar eine Fahrt nach Bamberg ins Café.

Die Kurier-Stiftung Menschen in Not möchte ihnen das ermöglichen. Wie? Mit der Anschaffung eines Busses für die Demenzgruppe.

Hintergrundinformation: Bei einer Demenz läuft das Absterben von Gehirnzellen aufgrund krankhafter Prozesse viel rascher als normal ab. Die Folgen sind u. a. eine zunehmende Vergesslichkeit sowie eine fortschreitende Beeinträchtigung wichtiger Gehirnfunktionen. Erkrankte können ihren Alltag immer weniger selbstständig bewältigen.

In Deutschland leben nach jüngsten epidemiologischen Schätzungen rund 1,6 Millionen Menschen mit Demenz. Die meisten von ihnen sind von der Alzheimer-Krankheit betroffen. Durchschnittlich treten Tag für Tag etwa 900 Neuerkrankungen auf. Sie summieren sich im Lauf eines Jahres auf mehr als 300.000. Infolge der demografischen Veränderungen kommt es zu weitaus mehr Neuerkrankungen als zu Sterbefällen unter den bereits Erkrankten. Aus diesem Grund nimmt die Zahl der Demenzerkrankten kontinuierlich zu. Sofern kein Durchbruch in Prävention und Therapie gelingt, wird sich nach unterschiedlichen Vorausberechnungen der Bevölkerungsentwicklung die Krankenzahl bis zum Jahr 2050 auf 2,4 bis 2,8 Millionen erhöhen. Dies entspricht einem mittleren Anstieg der Zahl der Erkrankten um 25.000 bis 40.000 pro Jahr oder um 70 bis 110 pro Tag.

Angaben: Deutsche Alzheimergesellschaft e. V., Selbsthilfe Demenz

 

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