„Ich will hier kein Stammgast werden“

Das Leben der heute 65-jährigen Katharina B. (Name von der Redaktion geändert) war nie ein Zuckerschlecken. Als Kind hat sie Spielsachen in der Nachbarschaft verkauft, um sich vom Geld etwas zu essen zu kaufen, die Mutter schickte sie sogar zum Stehlen, nach der Schule eine Anstellung, Arbeit im Akkord. Der Mann, den sie heiratet, missbraucht später die eigene Tochter. Noch heute fällt es Katharina B. schwer, darüber zu reden.

Aber sie schafft es. Schafft es, immer wieder aufzustehen, wenn sie das Schicksal mal wieder in die Knie gezwungen hat. Und sie schafft es vor allem, sich Hilfe zu suchen, und sie auch anzunehmen, auch wenn es ihr schwerfällt. Bei unserem Gespräch, das in den geschützten Räumen der Caritas und mitbetreut von Sozialpädagogin Dolores Longares-Bäumler stattfindet, betont sie von Anfang an: „Ich will hier kein Stammgast werden.“

Denn eines hat sich Katharina B. nie nehmen lassen: den Lebensmut, auch wenn sie heute – nach ihrer Krebserkrankung – nur noch ein Einkommen von 784 Euro hat, und ihr jeden Monat 293 Euro zum Leben bleiben. „Ich habe eine sehr kulante Vermieterin,“ sagt sie. „Nur so komme ich über die Runden.“ Wegen ihres Diabetes muss sie auch Insulin spritzen und so fallen Monat für Monat Medikamentenzuzahlungen an, die ihr zwar zum Ende des Jahres erstattet werden, aber bis dahin muss sie das Geld dafür aufbringen.

Trotz allem hat sich Katharina B. ihre Würde und ihren Stolz bewahrt. Ihr ist es wichtig, trotz der finanziellen Sorgen, ordentlich gekleidet zu erscheinen. Und sie freut sich über das Kompliment, das sie für ihre hübsche Bluse erhält.  

Katharina B. ist mit drei Geschwistern aufgewachsen. „Unser Vater war bei der Bundeswehr, und so hat er uns auch erzogen,“ erzählt sie. Wenn sie etwas angestellt hatten, mussten sie zur Strafe auf einem Holzscheit knien, den er mit Klebeband auf der Türschwelle befestigt hatte. Die Mutter schickte die Kinder zum Vater, um Geld zu holen. Um das zu umgehen, hätten sie und ihre Geschwister oft Spielsachen in der Nachbarschaft verkauft. „Ich bin bei Eltern aufgewachsen, die keine Kinder gebraucht hätten,“ lautet Katharina Bs Lebensfazit. „Meine Mutter war eine kleine Prinzessin. Wir waren ihr egal.“

Irgendwann lassen sich die furchtbaren Zustände im Haus der Familie nicht mehr vor der Öffentlichkeit verbergen. Das Jugendamt schreitet ein. Katharina B. und ein Bruder werden abgeholt und kommen in eine Klosterschule bei Regensburg. Auch das war nicht einfach. „Neun Jahre lang ging ich dort zur Schule“, erinnert sich Katharina B., die ihren jüngeren Bruder nicht allein lassen wollte. Im Alter von 15 Jahren kommt sie zurück nach Hause, erlebt die Scheidung der Eltern mit und die Situation für die Kinder wird noch schlimmer. Auf die Namen der Kinder bestellt die Mutter bei Versandhäusern, begleicht aber nie die Rechnungen. Immer wieder wird das Mädchen in Einkaufsmärkte geschickt, um zu stehlen. „Beim dritten Mal bin ich dann erwischt worden,“ erinnert sich Katharina B. Es kommt zur Verhandlung. Der Richter spricht sie frei mit den Worten: „Du bist a arme Sau.“

Nach der Schule findet sie eine Anstellung in Kronach, arbeitet im Akkord. Das Blatt scheint sich zu wenden. Katharina B. lernt auf der Arbeit ihren späteren Mann kennen und lieben. Die beiden finden eine gemeinsame Wohnung, heiraten, und es dauert nicht lange und ihre Tochter kommt zur Welt. Sein wahres Gesicht zeigt ihr Mann allerdings bald. Immer wieder klagt er über Schmerzen, kann nicht zur Arbeit gehen. Um das so gut es geht zu verheimlichen, übernimmt Katharina B. teilweise sogar die Schichten ihres kranken Ehemannes, bis sie die grausame Wahrheit erfährt: Während sie arbeitete, missbrauchte ihr Mann die damals erst 14-jährige Tochter. Es kommt zur Scheidung, und bevor Katharina es verhindern kann, räumt er die Möbel der gesamten Wohnung aus. Wieder steht Katharina vor einem Scherbenhaufen, muss schauen, wie sie zurechtkommt. Sie rappelt sich hoch, kümmert sich um ihre Tochter und versucht wieder, ihr verlorenes Vertrauen zu gewinnen. Ganz selbstverständlich war es dennoch für sie, zu arbeiten. „Das habe ich mein ganzes Leben lang gemacht. Ich war nie krank,“ erzählt sie. Bis das Schicksal erneut hart zuschlägt. Nachdem sie sich wochenlang mit unerklärlichen Unterleibskrämpfen herumgeschleppt hat, führt sie der Weg ins Krankenhaus. Die Diagnose: Darmkrebs. Sie wird sofort operiert. Das sei zwei Minuten vor zwölf gewesen, erklärte ihr der Arzt danach. Nach nur zwei Wochen im Krankenhaus arbeitet sie wieder. Erst ein Bandscheibenvorfall zwingt sie erneut in die Knie. Diesmal für längere Zeit. „Das Krankengeld war zum Leben zu wenig, und zum Sterben zu viel.“ Als sie wegen eines Tumors am Eierstock ein weiteres Mal operiert werden muss, sucht Katharina B. Hilfe und Unterstützung bei der Caritas. Die Kurier-Stiftung „Menschen in Not“ übernimmt in diesem Fall die Kosten für den Kauf von Lebensmitteln und Miete. Katharina B. bedankt sich herzlich, fügt aber gleich an: „Ich will hier kein Stammgast werden…“ Dolores Longares-Bäumler schüttelt nur den Kopf: „So etwas habe ich auch noch nicht erlebt.“  

Das Interview führte Gabi Schnetter.

Info: Besonders alleinstehende Frauen sind häufig von Altersarmut betroffen. Sie werden nicht nur älter als Männer, sondern sind oft auch schlechter abgesichert. Und das sogar trotz jahrzehntelanger Erwerbstätigkeit. Wie das Statistische Bundesamt berichtet, waren in den ersten drei Monaten des Jahres 2023 etwa 684.000 Rentner in Deutschland auf Grundsicherung angewiesen – 90.000 mehr als im Vorjahr.

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